Isphording

Interfacedesign im
Nutzungskontext

Entferne dich vom Computer

Die Gestaltung von User Interfaces findet in erster Linie digital am Computer statt. Das liegt in der Natur der Sache unserer modernen Arbeitsumgebung. Doch der Arbeitsplatz am Computer hat häufig sehr wenig mit dem tatsächlichen Einsatzgebiet des User Interfaces in der Praxis zu tun. Dieser Umstand führt zu einer Situation in der eine Vielzahl von Interfaces konzipiert und gestaltet wird, die häufig nichts mit der Realität der Nutzer zu tun hat. Welche Wege könnte man in der UI Entwicklung gehen um dies zu verbessern?

VR und AR

Virtuelle Realität und Augmentierte Realität erleben nach den achtzigern nun ihre Renaissance. Und diesmal scheinen sie gekommen um zu bleiben. Davon kann man zumindest nach den Entwicklungen der letzten Jahre ausgehen, denn was an Entwicklungsgeldern von Oculus und HTC (neben Google und Samsung) für die VR Entwicklung ausgegeben wird ist beachtlich. Auch Apple hat 2024 mit der Vision Pro nach langer Wartezeit seine eigene VR/AR Brille in den Ring geworfen. Und wenn auch die Verkaufszahlen der letzten Jahre etwas hinter den Erwartungen zurückliegen (was aus meiner Sicht in erster Linie an fehlenden, wirklich guten Inhalten liegt) dann ist die Szene ungleich größer als damals.

Spannt man das Netz etwas weiter und nimmt noch Augmentierte Realität und Hersteller wie Microsoft, Samsung und Magic Leap hinzu, dann dürfte der eigentliche VR Boom wohl erst noch kommen.

Design in VR/AR nah am Nutzungskontext

Eine Webseite kann sehr gut an einem Schreibtisch in Figma gestaltet werden. Bei Mobilen Apps wird es schon etwas schwieriger. Diese kann man zwar visuell auch gut am Schreibtisch gestalten, doch muss hier schon häufig der Nutzungskontext simuliert werden, da Smartphone-Apps ja häufig eben nicht sitzend am Schreibtisch benutzt werden, sondern meist eben Mobil. Je nach App-Typ auch häufig im gehen. Und mehr als eine “Reise-App” hat mich schon zur Weißglut getrieben, weil die Buttons, die ich im Gehen treffen muss einfach viel zu klein sind. Gehen wir jetzt noch einen Schritt weiter hin zur Interfacegestaltung für Autos, Boote, Baufahrzeuge, Züge oder Flugzeuge, dann wird klar, wie weit weg der Arbeitsplatz am Computer von der Tatsächlichen Einsatzumgebung ist.

Die Entwicklung von User Interfaces in VR und AR kann dabei helfen (wenn auch nur virtuell) Interfaces viel näher am eigentlichen Kontext zu gestalten. Denn für ein gelungenes Interface geht es nicht nur um die rein visuelle Gestaltung der Anzeigeflächen, sondern vor allem auch deren räumliche und kontextuelle Anordnung. Das ist besonders wichtig, wenn Produkte für einen realen Einsatzzweck gestaltet werden. Besonders, wenn es sich um Produkte handelt, deren Einsatzzweck nicht ohne Weiteres dort simuliert werden kann, wo das Interface entwickelt wird. Ich denke dabei in erster Linie an die Interfacegestaltung im Bereich Transportation, Medical und Desaster Relief. ZB: Interfaces für Autos, Boote, Baufahrzeuge, Züge, Schiffe oder Flugzeuge in zivilen oder Rettungs-Varianten.

Natürlich haben größere Firmen auch die Möglichkeit hier Prototypen oder Mockups einzurichten in denen man das Interface oder zumindest Teile davon testen kann, doch häufig kommt dies (vielleicht mit Ausnahme der Autos) nicht einmal auch nur Ansatzweise an den Nutzen im Kontext heran. Für kleinere Firmen ist die Simulation mithilfe realer Mockups in vielen Fällen auch zu teuer.

Die Nutzung von VR/AR kann hier Abhilfe schaffen, in dem sie das Objekt für das gestaltet werden soll, digital nachempfindet. Kombiniert man nun die ohnehin schon immersive Darstellung von 3D Inhalten mit einem teilweise nachgebildeten Mockup eines echten Fahrzeugcockpits, dann erhält man schon eine sehr immersive Arbeitsumgebung. Dadurch ist man in der Lage auf kleinem Raum und mit wenig materiellem Einsatz eine Vielzahl von Gestaltungsszenarien zu entwerfen. Neben der räumlichen Erfahrung kann der empfundene Realitätsgrad der Anwendungen in Form einer Videospiel-ähnlichen Simulation noch deutlich gesteigert werden.

Die Brillenhersteller selbst schöpfen das Potential noch lange nicht aus

Wenn man jedoch bedenkt, was für ein User Interface die VR Brillen selbst bisher mitbringen, dann sieht man jedoch, wie weit wir noch von dem eigentlichen Potential der Brillen entfernt sind. In den meisten Fällen ist die Darstellung nämlich noch 2D Fenster, die im Virtuellen Raum vor unseren Augen schweben. Hier ist noch deutlich Luft nach oben und bis sich ein neues Paradigma herausbildet wird sicher noch einige Zeit vergehen.

Für einen Markt entwerfen, den man nicht kennt

[[designing-for-a-market-you-don’t-know]]

Ein weiterer Punkt der führ fehlenden Kontext in der Gestaltung sehr wichtig ist: den Markt kennenlernen. Präziser gesagt: sich mit der Zielgruppe und dem Einsatzzwecke für die gestaltet werden soll vertraut machen. Das ist mit Sicherheit nicht in jedem Bereich so ohne Weiteres machbar, doch generell lässt sich sagen, das dies mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Ergebnisse um ein vielfaches verbessert.

Ein Beispiel aus eigener Erfahrung, welches mir dies am Deutlichsten vor Augen geführt hat: Ich habe vor meinem Studium einen handwerklichen Beruf als Raum- und Innenausstatter erlernt in dem ich einige Jahre mit den verschiedensten Werkzeugen vom Schraubendreher bis zur Tischkreissäge unterschiedlichster Hersteller und Preisklassen gearbeitet habe und die Frage, die ich mir in dieser Zeit am Häufigsten gestellt habe war: “Wer zur Hölle hat dieses Werkzeug so beschissen gestaltet?” Der Großteil der Werkzeuge war durchdacht und von guter Qualität (jedes Gewerk hat ja auch andere Präferenzen) aber immer wieder stößt man auf Produkte, die scheinbar “nur am Schreibtisch” gestaltet wurden ohne den Einsatz zu testen. Man stellt aber fest, dass viele Hersteller leider auch immer mehr den Weg in Richtung Overdesign und Firlefanzerei eingeschlagen haben, die für professionelle Anwender eher störend ist.

So ist es nicht nur bei der Gestaltung von Werkzeugen, sondern auch bei der Gestaltung von User Interfaces für die weiter oben angesprochenen Einsatzzwecke. Ich habe noch nie auf der Kommandobrücke eines Containerschiffes oder im Tower eines Flughafens gestanden. Sollte ich jetzt ein Interface für diesen Zweck gestalten, dann könnte ich zwar mit Handbüchern, einer Bildersuche und dem ein oder anderen Erfahrungsbericht ein Gestaltungskonzept abgeben, doch ohne jemals selbst an einem dieser Einsatzorte gestanden zu haben werde ich wohl nie ein wirklich gutes Ergebnis abliefern können. Genauso ist es auch in den anderen Szenarien. Man hat natürlich mal die Gelegenheit sich in ein Auto oder ein Baufahrzeug zu setzen oder das Cockpit eines Flugzeugs oder den Fahrerstand eines Zuges zu betreten, doch sind solche Besuche in der Regel kurz und Erklärungen oder ausführliche Gespräche mit den Menschen, die die von mir gestalteten Interface am Ende benutzen müssen gibt es in den wenigsten Fällen. Gerade das Thema [[airplane-cockpit-interface-design]] ist für sich selbst schon einen Artikel wert.

Ökonomisch sinnvolles Design

Hinzu kommt natürlich, wie in allen anderen Bereichen des Lebens auch, dass Design immer auch ökonomisch sinnvoll sein muss. Soll heissen, eine Firma, die kein Geld einfährt um ihre Mitarbeiter zu bezahlen, die scheidet meist auch aus dem Designgeschäft aus. Und da der Atem von immer mehr Firmen immer kürzer wird ist man häufig nicht in der Lage eine gesunde Designentwicklung zu betreiben, sondern versucht einfach kostengünstig und schnell die Zielvorgaben von Auftraggebern zu erfüllen. Man darf an dieser Stelle jedoch die Frage stellen, ob unter solchen Umständen noch gutes Design entsteht oder man einfach nur zu einem weiteren Dienstleister wird, der nicht mehr macht als vorgegebene Inhalte ansprechend zu verpacken.

Sources

  1. Viktor Papanek - Designing for the Real World [[design-for-the-real-world-by-viktor-papanek]]